Warum der #SchulboykottDE unsolidarisch ist

Nach der Ankündingung Mitte April, dass die Schulen in Deutschland in den nächsten Wochen schrittweise wieder geöffnet werden sollen, wurde schnell Kritik aus den Reihen der Schüler*innen und Eltern, aber auch von Lehrer*innen laut. Zeitweise rangierte der Hashtag #SchulboykottDE auf Platz eins der Twitter-Trends. Unter diesem Hashtag fordern Schüler*innen dazu auf, trotz Schulöffnungen den Unterricht zu boykottieren. Sie argumentieren mit mangelhaften Hygienestandards in den Schulen und einer damit verbundenen Gefahr der Ansteckung mit Covid-19 sowie möglichen psychischen Belastungen. Auch vor dieser Debatte hatte es bereits Forderungen nach einem bundesweiten Durchschnittsabitur gegeben, also einem Abitur ohne entsprechende Abschlussprüfungen. Die Kultusminister*innenkonferenz beschloss dann aber letztlich die Durchführung der Abiturprüfungen in allen Bundesländern. Dies hat, ebenso wie die schrittweise Öffnung der Schulen, für viel Aufsehen und Protest gesorgt, viele Schüler*innen fühlen sich von den politischen Entscheidungsträger*innen unfair behandelt. Sie sehen ihre Gesundheit für die Erprobung der Corona-Maßnahmen aufs Spiel gesetzt und halten daher die jetzige Rückkehr zur schulischen Normalität für illegitim. Meine Frage lautet: Wie lange wollt ihr zu Hause bleiben und könnt ihr die Konsequenzen verantworten?

Selbst den uneingeschränkten Optimist*innen unter uns ist mittlerweile bewusst, dass die Corona-Pandemie uns noch sehr lange begleiten wird. Diese Zeitspanne wurde anfänglich unterschätzt, laut heutigem Stand aber können wir mit einem Impfstoff gegen den neuartigen Corona-Erreger frühestens im Frühjahr 2021 rechnen. Bis dahin bleiben Abstandsregel, Social Distancing, besondere Hygienemaßnahmen und allgemeine Vorsicht das Gebot der Stunde. Klar ist jedoch auch, dass diese Maßnahmen keinen monatelangen Shutdown beinhalten können, weder wirtschaftlicher, noch sozialer oder schulischer Art. Dass viele Läden des Einzelhandels mittlerweile wieder öffnen dürfen, war eine richtige Entscheidung. Selbstverständlich muss diese Öffnung mit gewissen Auflagen und der Vorsicht aller Beteiligten verbunden sein, aber die Alternative; ein monatelanger wirtschaftlicher Shutdown, nachdem es praktisch keine Wirtschaft zum wieder „hochfahren“ gibt, ist keine Option. Und genauso verhält es sich auch mit den Schulen.

Schulen sind keine Wirtschaftsunternehmen, die von ihrer Öffnung oder Kund*innen abhängig sind. Dafür sind sehr, sehr viele Menschen von den Schulen abhängig. Ein Homeschooling auf Zeit kann funktionieren, wobei man auch dabei bedenken muss, dass längst nicht alle Schulen technisch so gut ausgestattet sind wie unsere. Und unsere Ausstattung ist nicht gut, nur im direkten Vergleich zu anderen. Langfristig kann Online-Unterricht aber nicht den Lernstoff vermitteln, der im regulären Schulbetrieb durch qualifizierte Lehrer*innen vermittelt wird. Viele Schüler*innen sind auf ihr gewohntes Lernumfeld angewiesen und haben darüber hinaus zu Hause weder die nötige Ausstattung, noch Eltern, die ihnen im Zweifelsfall helfen können, um das Homeschooling zu meistern. Das wird nicht nur, sondern es hat bereits die soziale Ungerechtigkeit und die Auswirkungen fehlender Chancengleichheit massiv verstärkt. Im schlimmsten Fall können sich die entstanden Nachteile in der Coronakrise durch die gesamte Schullaufbahn einzelner Schüler*innen ziehen. Für sie ist die zeitnahe Öffnung der Schulen entscheidend für ihren weiteren Bildungsweg.

Darüber hinaus stellt die momentane Schließung der Schulen eine sehr hohe Belastung für Eltern mit Kindern im betreuungsbedürftigen Alter dar. Denn auch jetzt noch haben längst nicht alle Eltern solcher Kinder Anspruch auf eine Notbetreuung. Diese Belastung führt in nicht wenigen Haushalten zu familiären Spannungen und Konflikten, was wiederum bewirkt, dass die Schüler*innen noch schlechter selbstständig lernen können. Von noch schlimmeren Folgen wie häuslicher Gewalt ganz zu schweigen.

Allein unter Betrachtung dieser beiden Aspekte könnte man schon davon sprechen, dass Schulen, ebenso wie Supermärkte oder Apotheken, systemrelevant sind. Dass mag eine radikale Ansicht sein, die so nicht jede*r unterstützt, aber nach nicht einmal vier Wochen Schulschließung, lassen sich die Folgen bereits jetzt aufs Deutlichste spüren. Meiner Ansicht nach müssten politische Entscheidungsträger*innen daher alle erdenklichen Schritte in die Wege leiten, um systemrelevanten Einrichtungen wie Schulen schnellstmöglich wieder öffnen zu können. Wo Seife und Desinfektionsmittel, wo Einmalhandtücher und Schutzmasken und wo Hygienekonzepte und Schüler*innentransportmittel fehlen, da müssen schleunigst welche angeschafft werden. Aber wie so oft, merken wir im Bildungssystem am wenigsten von den Milliarden, die im Zuge von Hilfspaketen verabschiedet werden.

Nun leben wir nun einmal aber nicht in einer Welt, in der Schulen als systemrelevante Einrichtungen betrachtet werden. Viel eher in einer, in der man am 30. April entscheiden will, was für Schüler*innen und Lehrer*innen womöglich schon am 4. Mai Realität werden soll. Da wir das aber nicht vor der nächsten Bundestagswahl bzw. Landtagswahl ändern können, müssen wir der Wahrheit ins Auge blicken: Wir werden wieder in die Schule gehen müssen, bevor es einen Impfstoff gibt. Wir werden Schwierigkeiten haben, die Abstandsregel einzuhalten, es wird an Desinfektionsmittel mangeln. Und ja, im Zuge der Schulöffnungen werden sich Schüler*innen und Lehrer*innen mit Covid-19 infizieren und diese werden dann wieder andere anstecken. Und ja, dabei werden vielleicht auch Menschen sterben. Aber das lässt sich nicht ändern, wir können nicht ein Jahr lang Homeschooling betreiben und die Schule boykottieren. Schuld daran, dass es Erkrankungen durch mangelnde Hygienestandards geben wird, werden in erster Linie nicht die Schulöffnungen sein, sondern unser kaputt gespartes Bildungssystem.

Die Schule zu boykottieren wird dieses Problem aber nicht lösen, weil sich die Probleme nicht in ein paar Wochen oder Monaten in Luft auflösen werden. Wir können alle nur unser bestes Tun, um die Verbreitung des Corona-Virus zu stoppen. Das gilt aber nicht nur für Schulen, sondern auch für allen anderen Bereiche des Lebens. Diejenigen Schüler*innen, die in diesen Tagen zum Schulboykott aufrufen, dürfen in diesem Zuge dann auch bis mindestens Frühjahr 2021 keine anderen Tätigkeiten des öffentlichen Lebens wahrnehmen und das werden wohl nur die wenigsten tun.

Der Irrglaube, es gäbe irgendeine Form der absoluten Sicherheit, muss endlich enden. Eine Pandemie ist schrecklich und damit zu argumentieren, eine Rückkehr zur Schule belaste die psychische Gesundheit, weil man viele Aktivitäten, auf die man sich gefreut habe, nun nicht mehr wahrnehmen könne, ist in Anbetracht der Ungerechtigkeiten, die durch die Schulschließungen oder das Durchschnittsabitur ausgelöst werden, leider einfach nur lächerlich. Genauso sehr lösen die Aufrufe zum Schulboykott in mir größtes Unverständnis aus, wenn ich darüber nachdenken, welche großen Risiken, sowohl gesundheitlicher als auch psychischer Art, Schüler*innen in anderen Teilen der Welt auf sich nehmen, um schulische Bildung zu erhalten.

Ich will nicht abstreiten, dass es schwierig werden wird. Auch nicht, dass wir natürlich nicht alle Schüler*innen auf einmal, sondern Schritt für Schritt die einzelnen Jahrgänge an die Schulen zurückholen müssen, um Hygienekonzepte zu erproben. Natürlich sollten Schüler*innen und Lehrer*innen der Risikogruppen zu Hause bleiben können und für diejenigen, die zur Schule gehen, sollten höchstmögliche Sicherheitsstandards eingeführt werden. Aber wir müssen wieder beginnen, auch wenn es uns Angst macht. Denn ein Schulboykott ist unsolidarisch mit denjenigen, die lebenslang davon profitieren, wenn Schulen jetzt wieder geöffnet und Hygienekonzepte erprobt werden können.

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