Es war fünf Minuten vor zwölf. Fünf Minuten vor Mitternacht. Ich, Paul, wälzte mich in meinem Bett hin und her. Das fahle Mondlicht fiel in mein Zimmer und warf unheimliche Schatten. Ich schlug die Decke zurück und setzte mich aufrecht hin. Danach krabbelte ich zu dem runden Fenster, das sich über meinem Bett befand. Ich stützte meine Ellenbogen auf die steinerne Fensterbank und ließ meinen Blick über den Burghof schweifen. Ja, ich wohnte auf einer Burg und nein, ich war kein Prinz. Die Burg war uralt und riesig. Meine Eltern hatten sie vor ein paar Monaten gekauft und vor zwei Wochen waren wir endlich hergezogen. Ich hatte mir ein Turmzimmer ausgesucht und war schon fast fertig mit dem Einrichten. Wie bereits erwähnt war die Burg riesig und daher kannte ich auch noch lange nicht alle Räume. Auf einmal passierten drei Dinge gleichzeitig. Die Glocken der Hofkapelle schlugen Mitternacht, hinter einem der vielen Fenster ging ein Licht an und ich kniff mich selbst. Warum? Ich hatte einen Schatten gesehen. Einen gruseligen Schatten. Meine Eltern? Unmöglich, meine Eltern schliefen über mir. Ich schluckte. Das Licht kam von der anderen Seite der Burg und gehörte wahrscheinlich zu einem der Räume, die ich nicht kannte. Vorsichtig nahm ich meine Taschenlampe und kroch langsam aus meinem Bett. Ängstlich verließ ich mein Zimmer und schlich die steinerne Treppe hinunter. Die verstaubten Gemälde warfen unheimliche Schatten. „Prinz Wilhelm von Gruselfürst der Dritte“, las ich. Schnell wandte ich mich ab und ging weiter. Ich stieg eine Treppe hinauf und eine andere wieder hinab, tapste durch einen langen Flur und marschierte durch etliche Räume. Schließlich stand ich vor einer schweren Eichentür, an der ein Eisenring befestigt war. Durch den Türschlitz war Licht zu sehen. Ich zögerte. Mit zitternden Händen packte ich den Eisenring und stieß die Tür auf. Vor mir erstreckte sich unverkennbar ein Ballsaal. An den Wänden hingen Teppiche und auf der linken Seite baumelte ein Kronleuchter von der Decke. In der Mitte stand ein Tisch, der von einem silbrigem Tischtuch überzogen war. Darauf standen viele Tablette und auf den Tabletten türmten sich verschiedenste Speisen. Und um den Tisch herum tanzten fast durchsichtige Geschöpfe, die bläulich schimmerten. Geister! Erschrocken machte ich einen Schritt zurück und krallte mich an eine alte Kommode. Dabei stieß ich eine alte Vase um, die klirrend auf dem Boden zersprang. Auch die Geister wichen erschrocken zurück. Überrascht machte ich einen Schritt nach vorne. Sie sahen aus wie eine riesige Wolke, die bläulich schimmerte. Langsam hoben sie vom Boden ab und schwebten immer höher. Im nu hatten sie die hohe Decke erreicht und suchten nach einem Loch in den bunt verzierten Fenstern. Doch anscheinend fanden sie keins. Da hörte ich ein kleines Geistermädchen sagen: „Vielleicht tut er uns nichts, vielleicht will er mit feiern oder vielleicht hat er sich verlaufen.“ „Vielleicht, vielleicht, vielleicht“, sang ein ebenso kleiner Geisterjunge. Auch ein alter Geist mit langem Bart fand : „Das klingt nicht gerade glaubwürdig, außerdem hat dein Bruder recht, sagt nicht immer vielleicht.“ Beleidigt mischte sie sich unter die anderen Geister. Ihr Bruder flatterte zu ihr und flüsterte: „Vielleicht, vielleicht, vielleicht.“ Dann wandte er sich um und streckte ihr die Zunge raus. Die ganze Zeit hatte ich schweigend zugesehen und auch nun brachte ich keinen Ton heraus. Da erblickte ich das Geistermädchen. Es löste sich aus der Wolke und glitt auf mich zu. Nachdem sie auf dem Boden aufgesetzt hatte, ratterte sie in einer irren Geschwindigkeit ein paar Sätze herunter, die ungefähr so klangen: „Vielleicht bist du gar nicht böse, vielleicht sind die anderen nur Angsthasen. Ich hab doch recht. Vielleicht…“ Sie erhöhte ihr Sprechtempo und ich verstand gar nichts mehr. Trotzdem nickte ich. „Toll!“, rief sie, packte mich und hob mich in die Luft. „Ahhhh! Hilfe! Ich…Ich kann nicht fliegen“, rief ich. Ich presste meine Augen zusammen und fuchtelte wild mit den Händen. „Ich kann aber fliegen“, rief das Geistermädchen und kicherte. Vorsichtig öffnete ich erst das eine, und dann das andere Auge und bemerkte das ich schwebte. Echt! Ich konnte fliegen. Naja, eigentlich hielt mich das Geistermädchen in der Luft, aber egal. Dann ließ das Geistermädchen mich zurück auf den Boden und ich fasste endlich wieder einen klaren Gedanken. „Äh…also, wie heißt du?“, fragte ich. „Ich bin Geistoria und das da“, sie zeigte auf den Geisterjungen, „das ist mein blöder Bruder Geistoritz.“ Geistoritz schnitt eine Grimasse. „Weiter feiern!“, quengelte ein Geisterbaby. Der alte Geist mit dem langen Bart überlegte und dann meinte er: „Geistoria, ich glaube, du hast recht und von dem Jungen geht keine Gefahr aus. Lass uns weiter feiern!“ Unsicher sah ich mich um. Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Etwas schüchtern stellte ich mich vor: „Hi, ich bin Paul.“ „Hallo Paul“, begrüßte mich Geistoria. „Hiermit lade ich dich herzlich zu unserer Geisterparty ein.“ Sie machte eine merkwürdige Handbewegung und ein glibbrig grüner Brief flog direkt in meine Hand. Er war aber gar nicht feucht. Trotzdem war er so glibbrig wie Wackelpudding. Ich öffnete den Glibberumschlag und ein goldenes Papier schwebte heraus. Schnell über flog ich die Zeilen. Mit blauer Tinte stand dort geschrieben:
Lieber Paul,
hiermit laden wir dich herzlich zu unserer Mitternachtsparty auf Burg Funkenrot ein. Schaurigschöne Grüße Geisto (Erster Vorsitzender des Vereins Gruselschreck)
Verdutzt sah ich auf den Zettel.
Es gab gleich zwei Dinge, die mir seltsam vorkamen:
Wusste Geistoria das ich kommen würde?
Warum Burg Funkenrot? Die Burg hieß Feuereck.
Ich wandte mich an Geistoria, die gerade angeflattert kam. „Ach so“, Geistoria begann zu erklären: „Ich wusste nicht, dass du kommst, aber ich bin ein Geist und besitze Zauberkräfte und zweitens hieß die Burg, als ich vor 349 geboren bin, Burg Funkenrot. Wer sich den Namen Feuereck ausgedacht hat, weiß ich nicht.“ Sie packte mich am Arm und zog mich zum Büfett. „Du sollst mich nicht so mit Fragen Löchern“, sagte sie . „Ich bin schon ganz hungrig!“ Ich fing an zu lachen und Geistoria zog mich zu einem Tablett, auf dem sich rote Glibberbälle häuften. Geistoria schnappte sich einen, warf ihn in die Luft und fing in mit dem Mund auf. Sie kaute genüsslich und nuschelte: „Pobie ma.“ Ich zögerte und erkundigte mich: “ Was ist das?“ „Natürlich rote Glibberbällchen mit Sternknollen“, sagte Geistoria und sah mich kritisch an. „Bis du ein Außerirdischer oder warum kennst du die beste Speise der Welt nicht?“ „Ich…also…“, ehe ich antworten konnte, zog sie mit zu einem Teller, auf dem ein paar kreisförmige Teigdinger lagen. „Kennst du denn wenigstens die?“, wollte Geistoria wissen. „Ähm…nein“, gab ich kleinlaut zu. „Das sind Furzelwurzelplätzchen“, erklärte mir Geistoria. Sie nahm sich einen und schmatzte: „Mega!“ Ich nahm mir ebenfalls ein Furzelwurzelplätzchen und schob es mir in den Mund. Ich kaute und musste zugeben, dass es ziemlich gut schmeckte. „Und was ist das hier?“, erkundigte ich mich und deutete auf einen Stapel Pfannkuchen, die mit einer ungewöhnlich lilanen Paste bestrichen waren. Geistoria antwortete nicht. Auch das Orchester, das in der rechten Ecke des Saales gestanden hatte und mittelalterliche Musik gespielt hatte, verstummte nun. Ich tickte Geistoria an, doch diese starrte weiter in Richtung Fenster. Ich folgte ihrem Blick und sah durch die Fenster, die ein bisschen an die bunten Fenster einer Kirche erinnerten. Ich sah direkt in den Vollmond. Doch auf einmal sah ich den Mond nicht mehr.
Fortsetzung folgt.